Donnerstag, 24. Januar 2013

Halbzeit - eine Zwischenbilanz

Fast fünf Monate haben wir schon hinter uns gebracht. Und drei weitere werden folgen, bis wir wieder deutschen Boden unter den Füßen spüren werden.

Die bisherigen Monate waren sicherlich nicht leicht zu bewältigen. Wie oft hatten wir mit Missverständnissen, kulturellen Divergenzen, dem Anblick der Armut, Hitze, Staub, Lärm und vielem mehr zu kämpfen? Wäre es nicht einfacher gewesen, diese 8 Monate zuhause, im gemachten Nest, zu verbringen? Sicherlich haben wir nicht den leichtesten Weg gewählt, als wir uns für diesen Freiwilligendienst beworben haben. Aber das wäre ja auch langweilig.

Dennoch haben wir uns wohl für den lehrreichsten und prägendsten Weg entschieden, denn die bisherigen vier Monate haben Aufschluss über eine fremde Kultur, über gemeinsames (interkulturelles) Miteinander, über gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle Probleme eines Landes und vieles mehr gegeben. Jeden Tag haben wir die Chance, Neues dazuzulernen: sei es durch neue Begegnungen, durch Gespräche mit Einheimischen, kulturelle Erlebnisse, … Einige Dinge, die wir sehen, hören, riechen und fühlen, können wir nicht immer begreifen oder verstehen. Vielleicht liegt dies daran, dass diese Dinge uns zu fremd sind? Vielleicht fehlen uns auch entscheidende Informationen, um diese Dinge zu verstehen? Was auch immer es ist, eines haben wir begriffen: Manches muss man so akzeptieren wie es ist. Manches kann man weder nachvollziehen, begreifen noch verändern. Man muss es einfach hinnehmen.

Auch wenn uns vieles fremd erscheint, wurde uns über die Zeit bewusst, dass wir doch über immense Kapazitäten und Anpassungsfähigkeiten verfügen, welche uns erlauben, Teil dieser Kultur zu werden. Selbst Dinge, die uns zu Beginn paradox und eigentümlich erschienen, sind uns mit der Zeit vertraut geworden und vieles haben wir sogar selbst verinnerlicht: Zum Beispiel finden wir uns jetzt ohne Probleme im chaotischen Verkehr hier zurecht, können mit Straßenverkäufern verhandeln, praktizieren die Tischmanieren der Inder, benutzen typische Gestik, Mimik, Aussprache und Redewendungen und vieles mehr. Auch haben wir uns an den geringeren Komfort (harte Betten, oftmals ohne Matratze, Stromausfälle, nicht vorhandene Dusche bzw. kaltes Wasser, Ungeziefer, Lärm ab 6 Uhr morgens, u.v.m.) gewöhnt.

Neben dieser Erkenntnis haben wir auch gelernt, wie glücklich wir uns für unsere westlichen Lebensstandards schätzen können. Viele Inder müssen mit einem Monatseinkommen von weniger als 22€ die gesamte Familie ernähren, ohne dabei finanzielle Unterstützung von der Regierung zu erhalten. Wie solch ein Leben in bitterster Armut aussieht und wie mühsam es ist, sich aus dem Teufelskreis der Armut zu befreien, haben wir mit eigenen Augen gesehen. Den Wohlhabenden und der Regierung ist dieses Problem sehr wohl bekannt und dennoch fehlen wichtige Schritte und Unternehmungen, um dieses Problem endlich zu überwinden. Auch wenn das Sozialsystem in Deutschland diverse Mängel aufweist, können wir doch im Vergleich sehr dankbar für Unterstützung in vielfältiger Form sein.

„Are you happy today?“

Auch wenn es vieles in Indien gibt, was wir für verbesserungswürdig halten, so gibt es auf der anderen Seite auch sehr viele Dinge, die wir nach unserer Ausreise im April vermissen werden. Diese sind zum einen in den vielen Menschen, die uns begegnet sind und in unserem alltäglichen Tun (unsere Arbeit, Speisen, Plätze, …) zu finden, aber auch in der indischen Mentalität, die uns über die Zeit ans Herz gewachsen ist. So schätzen wir z.B. den Gemeinschaftssinn, die Fürsorglichkeit für die Mitmenschen und das Interesse an deren Wohlergehen. Spürt man, dass es jemandem nicht gut geht, erkundigt man sich und bietet seine Unterstützung an. Als wir eine Freundin im Auto begleitet haben und dieses auf halber Strecke liegen blieb, versammelte sich sogleich eine Traube an Menschen um uns, um die Ursache des Problems zu finden und zu helfen.

Auch erkundigen Inder sich oft nach dem Wohlbefinden und ihnen gelingt es dabei, uns regelrecht zu überfordern, denn oft fragen sie nicht „How are you?“, sondern „Are you happy today?“. Letztere Frage unterscheidet sich doch sehr von ersterer und hat uns oft zum Nachdenken bewegt. Denn „gut“ gehen kann es einem bereits, wenn man keine gesundheitlichen Beschwerden hat. Aber was braucht man, um „glücklich“ zu sein? Wie auch immer jeder Mensch diesen abstrakten Begriff des „Glücklichseins“ für sich definiert, so haben wir für uns erkannt, dass Indien, als unsere neue zweite Heimat, es geschafft hat, uns glücklich zu machen.

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